Im Estrich meiner Grosseltern befinden sich Stapelweise Leinenstoffe verziert mit dem Monogramm der heiratenden Frau, welche als Brautzugabe angefertigt wurden. Die Stickerei war seit dem 18. Jahrhundert in der westlichen Gesellschaft eine rein weiblich konnotierte handwerkliche Fertigkeit. Dieses feminisierte Handwerk war ein Mittel, die rigide Binarität von Geschlechterrollen zu stabilisieren. Seit den 1960er Jahren wurde das Sticken aber auch vermehrt als eine kollaborative Form des feministischen Selbstausdrucks beschrieben.
Wie Rozsika Parker in ihrer erstmals 1984 erschienenen Studie über das Sticken festhielt, entstand eine Wieder-Aneignung des Stickens als Kommunikationsmittel, als Instrument des weiblichen Ausdrucks, welcher Widerstand hervorrief:
«The art of embroidery has been the means of educating women into the feminine ideal and of proving that they have attained it, but it has also provided a weapon of resistance to the constraints of femininity.»
Während der zweiten Welle des Feminismus in den 1960er Jahren begannen feministische Künstlerinnen wieder vermehrt mit Textilien zu arbeiten, um diese «traditionellen» Medien als Formen von Aktivismus und Protest zu nutzen.
Meine mit Valérie Rohner angefertigte Stickerei «56/11» stellt die grafische Übersetzung eines Systems der Weissagung aus dem Buch Numerology and the Divine Triangel von Javane Faith dar. Anhand der Quersumme aller Zahlen des Geburtsdatums einer Person und den im Alphabet den jeweiligen Buchstaben zugeordneten Zahlen [N I N A = 14, 9, 14, 1] werden Charakterzüge, Lebenslauf, bestimmte Ereignisse und Wertesysteme einer Person bestimmt.
Vier der im Buch vorgestellten Zahlen (Personal Number, Path of Destiny Number, Inner Personality Number, Outer Personality Number) waren Grundstein unserer Grafik. Wir übersetzten die vier Zahlen in geometrische Formen, welche ihre Bedeutung unterstreichen. Beispielsweise berührt die Outer Personality Number als Tangente den Kreis der Inner Personality Number. Die einzelnen Zahlenwerte bestimmen Grid, Radius der Kreise und Winkel der Strahlen.
Die Grafik besteht aus zwei Hälften, welche, sich je auf eine Person beziehend, im Gesamtbild die Verflechtungen und Überschneidungen unserer angeblichen Lebensabläufe darstellen.
Uns reizte einerseits der skurrile Ansatz, das Leben von Menschen anhand des Geburtsnamens und Datums vorhersagen zu können. Andererseits interessierten wir uns für das Potential von Sticken als einem feministischen Akt. Medienübergreifend arbeiteten wir auf grafischer und anschliessend materieller, handwerklicher Ebene, bewegten uns digital und analog in dem aus den Buchstaben abgeleiteten Zahlen-Kosmos und folgten den geometrischen Formen in einem 56-stündigen Stickprozess.
Rückblickend sind in unserer Arbeit viele Parallelen zu den gesticken Monogrammen zu finden, wie sie im Estrich meiner Grossmutter lagern. Es sind aber mathematische Monogramme, persönlich und scheinbar unsere Zukunft vorhersagend.
Bewusst wird in unserer Übersetzung der ursprünglichen Weissagungen der Fokus weg vom Individuum und dem isolierten Leben in Richtung zwischenmenschlichen Verbindungen und der Kombination von Lebensentwürfen verschiedener Menschen bewegt. Die heutige Realität unserer Leben kann nur im Kontext von Gemeinschaften und Schnittpunkten verschiedener Leben verstanden werden.