Wo heute das Grafikbüro Atlas Studio, der Zürcher Seifenhersteller Soeder und die ViCafe Rösterei sitzen, rollten vor über 100 Jahren die ersten Züge der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) in ihre Werkstätten. Wo einst Maschinen mit einem Dampfkessel betrieben wurden, entsteht heute ein Ort mit modernster Infrastruktur, klar gentrifiziert. Damit wir in Zukunft nicht nur hübsch renovierte Backsteinbauten als Endresultat eines Transformations- und Umnutzungsprozesses sehen, ist ein Blick in die Geschichte dieser Gebäude angebracht.
Werkstätten, die einst ihren eigenen Gebäudenamen hatten, sind heute in die Hohlstrasse eingebettet. Getarnt durch eine neue Hausnummer, lässt sich die ursprüngliche Bedeutung dieser Gebäude leicht vergessen. Was heute beispielsweise die Hohlstrasse 420 ist, wurde vor über 100 Jahren als Speisehaus erbaut. Baulich gesehen ist die ehemalige SBB Hauptwerkstätte klar als einheitliches Areal zu erkennen, doch der Versuch, die Gebäude in die Hohlstrasse einzuschleusen, ist eine historische Entstellung. Dem entgegen soll hier hinter die Fassaden der denkmalgeschützten SBB Werkstätten geschaut werden, um anhand von vier Gebäuden ein exemplarisches Beispiel eines tiefgreifenden Transformations- und Umnutzungsprozesses in der Stadt Zürich zu geben.
Das Jahr 1902, in welchem das Schweizer Stimmvolk die Verstaatlichung der rivalisierenden Privat-Bahnen beschloss, bildet das Gründungsjahr der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) und somit den Beginn dieser Geschichte. Die zwischen 1905 und 1911 erbaute SBB Hauptwerkstätte, welche sich über fast einen Kilometer entlang der Hohlstrasse erstreckt, wurde zum grössten Knotenpunkt des nationalen Bahnnetzes und einem bautechnisch prägenden Bestandteil des Vorstadtquartiers Aussersihl. Begeben wir uns auf einen Spaziergang durch das knapp 42 000 Quadratmeter grosse Areal und betrachten einige Gebäude etwas genauer.
Die ältesten historischen Gebäude sind: das 1905 erbaute Verwaltungsgebäude, das Magazingebäude und das Portierhaus aus Sichtbackstein (1). Das Herzstück der Werkstatt bildet das Portiergebäude, wo der Portier mit seiner Familie wohnte, Personen sowie Waren registrierte und Anlieferungen entgegennahm. Heute stehen hier die mit Pinseln und Papieren gefüllten Regale des Papeteriefachhandels Bösner. Der Bestand wird natürlich mit einer digitalen Datenbank erfasst und automatisch aufgestockt, und die Mitarbeiter*innen badgen ihre Arbeitszeiten an einem kleinen Automaten.
Die Wagenwerkstatt 1 oder die heutige Hohlstrasse 418, ein 1909 erbauter Eisenskelettbau mit einer über 100 Meter langen Backsteinfassade, stellte das Hauptgebäude für die Wartungen der Wagons dar (2). Im Kopfbau dieses Gebäudes waren die zwei Handwerksbetriebe Sattlerei und Schreinerei platziert. Wo im 20. Jahrhundert der Innenbau der Wagons vor Ort angefertigt wurde, wird heute der zürichweit bekannte ViCafe geröstet und es entstehen hochwertige Geigen und Espressomaschinen. Seit auch die SBB immer mehr Ersatzteile ab der Stange bestellt, werden einmal mehr Liegenschaften frei – frei für neues Gewerbe und zeitgenössische Produktion.
Wo heute bei gemütlicher Atmosphäre in einem Holzbau «Zmittag» und «Znacht» gegessen werden kann, lag vor 100 Jahren noch Holz zum trocknen. Das 1911 in Betrieb genommene Gebäude der Holztrocknerei und die anliegende Schreinerei (3) verloren im Laufe der Zeit ihre Notwendigkeit. Als Züge noch Holzsitzbänke, mit Holz verkleidete Wände, Böden und Decken hatten, hatten diese Gebäude eine grosse Bedeutung. Heute bieten sich das industrielle Backsteingebäude und der Holzschuppen für einen neuen Treffpunkt, Bier, Glühwein und saisonale Gerichte an.
Bewegen wir uns weiter zum westlichen Ende des Areals, so stehen wir vor der Elsässer Halle, einem bahngeschichtlichen Museumsstück (4). Das Gebäude wurde in den 1850ern als Bahnhofshalle für den damaligen Zentralbahnhof in Basel erbaut, wo die Züge aus den elsässischen Regionen einfuhren. Als ab dem Jahr 1902 der noch heute bestehende Basel SBB Bahnhof gebaut wurde, war unklar, was mit der Elsässerhalle passieren soll. Ein Abbruch war allerdings undenkbar, so wurde die Halle in ihre Einzelteilen zerlegt und nach Zürich transportiert. Dort wurde sie am heutigen Standort, der Hohlstrasse 438, wieder aufgebaut und fortan als Holzlager genutzt. Ein Glücksfall für die SBB, absolute Nachhaltigkeit im Bauwesen und eine grosse Freude für den Denkmalschutz, denn die Elsässerhalle ist der älteste erhaltene SBB-Bau überhaupt. Die Umnutzung und Umbenennung geht heute weiter: Die «Elsässer Markthalle» wird bald für wöchentliche sowie monatliche Märkte zur Verfügung stehen.
Obwohl das gesamte Areal der SBB Werkstätte noch heute vom originalen Eisenzaun umgeben ist, macht die in den Zürcher Kreisen 4 und 5 um sich greifende Gentrifizierung hier nicht halt, sondern setzt zu einer Transformation und Umnutzung an. Neben dem kleiner gewordenem Bahnbetrieb entsteht ein neuer Ort für lokale Produktion, Kultur und Erholung mit Hausnummern statt Gebäudenamen. Eine Abwertung ist dies keinesfalls, doch sollte die Geschichte dieser Gebäude nicht vergessen gehen.