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Viviane Bettschart: Das Pferd im Badezimmer

Abb. 1: Vasil @thepowershit
Abb. 1: Vasil @thepowershit

Als ich ein kleines Kind war, gab es ein Verbot, das meine kindliche Neugierde besonders anzog – der Apothekenschrank meiner Mutter. Trotz des strengen Verbotes fand ich stets den Weg zu diesem geheimnisvollen Ort. Gefüllt mit Spritzen, Fläschchen, Schläuchen und einer ganz besonderen Arznei: Pferdebetäubungsmittel. Meine Mutter, eine Veterinär-Anästhesistin, hatte in diesem Schrank ihren Notfallvorrat, und ein neugieriges Kind wie ich konnte nicht widerstehen, einen Blick auf die Welt hinter den verschlossenen Türen zu werfen.

Langes Warten an Mamas Arbeitsplatz war Grund dafür, dass ich viel zu früh für Kinder ungeeignete Szenen beobachtete. Durch ein Guckloch blickte ich in den OP-Saal voller blau gekleideter Menschen. Der Geruch von stechenden Desinfektionsmitteln und sterilem Plastik stieg mir in die Nase, als ich neugierig zuschaute, wie Mamas tierische Kunden sanft in den Schlaf versetzt wurden.

Abb. 2: Prof. Dr. med. vet. Regula Bettschart
Abb. 2: Prof. Dr. med. vet. Regula Bettschart

Schon bald lernte ich die Unterschiede zwischen dieser klinischen Welt und meiner eigenen zu verstehen, und wagte es, weitere Blicke hinter verschlossene Türen zu werfen. Bis dahin ahnte ich nicht, was ich eines Tages entdecken würde: dass das Pferdebetäubungsmittel Ketamin seinen Weg in die Badezimmer der Underground-Szene fand. Was in den Toilettenkabinen der Nightclubs ablief, war eine verborgene Welt, von der ich nur im Flüsterton gehört hatte. Mir wurde klar, dass die Realität oft weit surrealer ist als jede Fantasie.

In einer Welt, so absurd anders und weit von meinem kindlichen Verständnis entfernt, versetzt Ketamin keine Menschen in den Schlaf. Im Gegenteil: Sie werden zu wahren Pferden, schnupfen weiße Pulverlinien und traben die ganze Nacht zu den Vibrationen der Bässe. Verzogene Zeit, verschmelzender Raum, Kontrollverlust – bis sie in ein Loch der Trance fallen, in ein K-Hole. Tanzende Zentauren im Galopp, strebend nach Freiheit. All das aufgrund eines Pferdenarkosemittels. Die Droge, die Welten durchläuft und immer mehr Menschen zu Pferden im Badezimmer verwandelt.

Abb. 3: Vasil @thepowershit
Abb. 3: Vasil @thepowershit

Was einst als Mittel zur Linderung von Schmerzen und zu medizinischer Behandlung gedacht war, wurde zu einem Instrument der Verführung und Verwandlung. Die Grenzen zwischen Realität und Rausch verschwimmen, während das Pferd im Badezimmer zur Metapher für eine Welt wird, in der die Oberfläche trügerisch ist. Und ich, einst ein neugieriges Kind, stehe vor einem Abgrund aus Dunkelheit und Verlockung, der mich gleichermaßen fasziniert und erschreckt.