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Dennis Vugts: Fotoretusche

Abb. 1: «Valley of the Shadow of Death», Roger Fenton, April 23, 1855. Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Valley_of_the_Shadow_of_Death_%28Roger_Fenton%29
Abb. 1: «Valley of the Shadow of Death», Roger Fenton, April 23, 1855. Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Valley_of_the_Shadow_of_Death_%28Roger_Fenton%29

1855 gewann Franz Hanfstaengl auf der Pariser Weltausstellung eine Goldmedaille für die Vorführung retuschierter Fotografien. Heute bezeichnet man diesen Zeitpunkt als die Geburt der Fotoretusche. Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass bereits zuvor Experimente der Negativretusche durchgeführt wurden. Zu dieser Zeit wurden Fotonegative mit einer grossen Lupe, Kratzschabern, verschiedenen Pinseln, Radiergummi, Bleistiften und Lacken bearbeitet. Es war eine pingelige Arbeit, die höchste Konzentration erforderte. Fehler konnten nicht rückgängig gemacht werden.

Wie auch heute wurde die Fotoretusche auf verschiedene Arten eingesetzt. Es gab zum Beispiel politisch motivierte Bildmanipulationen. Stalin und Lenin liessen oft unliebsam gewordene Menschen nachträglich aus den Fotos retuschieren. 1920 hielt Lenin eine Rede in Moskau. Leo Trotzki und Lew Kamenew standen im Originalbild auf den Stufen des Podestes. Auf dem retuschierten Foto wurden beide übermalt und durch Holzstufen ersetzt.

Zur Zeit von Abraham Lincolns Wahlkampf in den 1860ern kursierte das Gerücht, er sei hässlich wie die Nacht, klein, gebeugt, gedrungen, mit langen Fingern wie ein Gnom. Es gab es eine Menge negativer Presse und Berichterstattungen über sein angeblich furchtbares Äusseres. Mathew Brady kam zu Hilfe. Mit der Negativretusche kürzte er die Finger, sorgte dafür, dass das Bild aufrechter wirkte, verlängerte den Hals und glättete Spuren in Abraham Lincolns Gesicht. Er rettete damit Lincolns Wahlkampf.

Abb. 2: Mathew Brady, modifiziertes Foto von Abraham Lincoln, Februar 1860, Library of Congress. Quelle: https://www.atlasobscura.com/articles/abraham-lincoln-photos-edited
Abb. 2: Mathew Brady, modifiziertes Foto von Abraham Lincoln, Februar 1860, Library of Congress. Quelle: https://www.atlasobscura.com/articles/abraham-lincoln-photos-edited

Solche Retuschen waren damals grösstenteils verhüllt und ein sehr effektives Mittel, um Menschen zu manipulieren und falsches Vertrauen zu gewinnen. Es gab jedoch auch weniger böswillige Manipulationen. 1908 erschien das Buch Complete Self-Instructing Library Of Practical Photography von J. B. Schriever. Darin wird zum Beispiel das Bemalen des Negativs erklärt. Mit dieser Methode konnten sogar geschlossene Augen wieder geöffnet werden. Andere Kapitel erläutern das «Radieren von dicken Hälsen» oder «Richten von schielenden Augen».

Abb. 3: Beispiel aus J. B. Schriever’s Buch über Practical Photography von 1908. Quelle: https://kwerfeldein.de/2022/08/25/geschichte-der-bildbearbeitung/
Abb. 3: Beispiel aus J. B. Schriever’s Buch über Practical Photography von 1908. Quelle: https://kwerfeldein.de/2022/08/25/geschichte-der-bildbearbeitung/

Obwohl der Begriff Retusche aus dem Französischen von retouche, wörtlich «noch einmal berühren», abstammt, gehört die Technik zu einer viel grösseren Familie, der Bildmanipulation. Diese findet nicht nur nach dem Schiessen eines Bildes statt, sondern teilweise bereits davor. Roger Fentons berühmtes Bild aus dem Krimkrieg, das unter dem Titel «Valley of the Shadow of Death» bekannt wurde, macht Gebrauch von dieser Technik. Auf dem ersten Bild sind einige Kanonenkugeln neben einer Strasse ersichtlich. Um das Bild zu dramatisieren, verteilte Fenton die Kanonenkugeln beim zweiten Bild auf der Strasse. Dies erweckte den Eindruck, als wären die Kampfhandlungen sehr kürzlich noch in Gang gewesen. Die Linie zwischen Inszenierung und Dokumentation wurde undeutlich gemacht. Auch die Cottingley-Feen von 1917 sind ein gutes Beispiel. Auf uns wirken die Feen, die auf den Bildern vor den Kindern tanzen, sehr unecht. Anfang des 20. Jahrhunderts lösten sie jedoch Begeisterung und eine neue Welle des Feenglaubens aus. In Wahrheit handelte es sich bei den Feenwesen um ausgeschnittene Kartonbilder. Die Fotos zeigten also keine nachträglichen Bildmanipulationen, logen aber dennoch.

Abb. 4: Dennis Vugts & Leandra Adler, «Sad alien», Modul Experimentelles Gestalten, ZHdK 2023
Abb. 4: Dennis Vugts & Leandra Adler, «Sad alien», Modul Experimentelles Gestalten, ZHdK 2023

Bei den Präsentationen der ersten brauchbaren fotografischen Verfahren 1839 wurde die weitgehende Unabhängigkeit des Bildmaterials vom Schöpfer als die grosse Stärke fotografischer Technik gepriesen. Die Fotografie wurde als die «objektivste Form der Abbildung» bezeichnet. Doch auch ohne jegliche Retusche oder sonstige Bildmanipulation wird die Frage der Echtheit eines Bildes immer wieder zum Problem. So weist Bernd Hüppauf in seinem Buch Fotografie im Krieg (2015) die Annahme zurück, dass die Kriegsdokumentation eine reine Form des Repräsentierens einer vorliegenden Realität sei. Sobald ein Foto geschossen wird, egal ob von aussen eingegriffen wird oder nicht, werden bestimmte Entscheidungen getroffen, welche die Betrachtenden zu verschiedenen Schlüssen führen können. Die Entscheidungen beginnen beim Inszenieren einer Szene, gehen weiter beim Auslösen des Fotoapparats und sind noch nicht zu Ende bei der Retusche.

Abb. 5 und 6: Dennis Vugts & Leandra Adler, «Sad alien», Modul Experimentelles Gestalten, ZHdK 2023
Abb. 5 und 6: Dennis Vugts & Leandra Adler, «Sad alien», Modul Experimentelles Gestalten, ZHdK 2023

Verwendete Literatur:

Artikel «Retusche», Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Retusche [zuletzt aufgerufen am 8. Oktober 2024]

Artikel «Valley of the Shadow of Death (Roger Fenton)», Wikipedia, https://en.wikipedia.org/wiki/Valley_of_the_Shadow_of_Death_%28Roger_Fenton%29 [zuletzt aufgerufen am 8. Oktober 2024]

Bernd Hüppauf, Fotografie im Krieg, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2015

Katja Kemnitz, «Geschichte der Bildbearbeitung», 25. August 2022, https://kwerfeldein.de/2022/08/25/geschichte-der-bildbearbeitung/ [zuletzt aufgerufen am 8. Oktober 2024]

Dirk Primbs, «Die Geschichte der Bildmanipulation», 16. Mai 2021, https://fotomenschen.kopfstim.me/die-geschichte-der-bildmanipulation/ [zuletzt aufgerufen am 8. Oktober 2024]