Spätestens seit Nägeli sind Graffiti aus dem Zürcher Stadtbild nicht mehr wegzudenken. Trotzdem investiert die Stadt Zürich jährlich Millionenbeträge in die rasche Wiederherstellung des Ursprungszustands von Bushaltestellen, Hausfassaden, Schildern oder Baustellenabsperrungen, denn Graffiti sind der Stadt schon seit Jahrzehnten ein Dorn im Auge. Vor allen Dingen in Zürich waren sie schon immer auch ein Sprachrohr der Nichtgehörten und Aussenseiter. Schon während der Jugendaufstände der 1980er Jahre wurden Graffiti zur Politisierung und Meinungsäußerung genutzt. Sprüche wie «ZÜRI BRÄNNT JETZT» prägten Hausfassaden, bevor das Sprühen des eigenen Kosenamens üblich wurde. Wer keine Mittel hat, um sich in die großen Zeitungen einzukaufen, muss andere Methoden finden, um auf sich aufmerksam zu machen.
In der Schweiz ist es sauber. Es gibt wenig herumliegenden Abfall, die Straßen werden täglich vom Schmutz des Alltags befreit, und zwar unabhängig davon, ob man sich in einem kleinen Bergdorf oder in einer Großstadt befindet. In der Schweiz gibt es keinen Platz für Schmutz. Doch wenn sich der Schmutz nicht so einfach entfernen lässt, muss eine neue Lösung her.
Zur raschen Entfernung von Graffitis wird entweder ein Sandstrahler eingesetzt oder die Wände werden gleich neu gestrichen. Dabei ist es schwierig, den richtigen Farbton der darunterliegenden Wand zu treffen. Durch Sonneneinwirkung, Schnee, Regen, Dreckablagerungen oder durch den Zerfall der Farbe kann auch dieselbe Farbe, mit der die Wand vor 10 Jahren ursprünglich gestrichen wurde, einen völlig anderen Ton wiedergeben. Dadurch ergeben sich abstrakte Kompositionen von unfreiwilligen Farbflächen, die den Raum einnehmen, der ursprünglich von Graffiti besetzt wurde.
Bereits im Duktus der Maler*in sind erste Unterschiede festzustellen. Während einige Flächen mit klaren, von Malerband vordefinierten Linien abgesteckt wurden, gibt es andere, die durch Verwendung eines halbtrockenen Borstenpinsels eine ganz neue Persönlichkeit erhalten. Dabei unterscheiden sich die Medien der Künstler*innen grundlegend. Manchmal ist es eine große, zusammenhängende Fläche, etwa einer Einfahrt, die sich wie ein Tuch über die Wand legt. Dann wieder zeichnet sich ein Garagentor durch das Zusammenspiel von vielen kleinen Farbflächen aus, die zusammen ein Mosaik aus unterschiedlichen Graustufen ergeben.
Man könnte meinen, die zu übermalende Fläche sei durch das Werk des vorherigen Künstlers bereits vorgegeben, doch nimmt sich die Stadt oft selbst die gestalterische Freiheit, zu entscheiden, wie groß am Ende übermalt werden soll. Während manche von der Stadt beauftragten Maler*innen sich in mühseliger Kleinstarbeit minuziös am Naturalismus versuchen, wie es bereits Renaissance- und Barockkünstler vor Jahrhunderten taten, greifen andere zu abstrakteren Mitteln. Farben, die nicht zur Grundfläche passen, geben eher einen Moment des abstrakten Expressionismus wieder, während Tags, die weniger Fläche einnehmen als ein klassisches Graffiti, zur surrealistischen Versuchung werden: Wenn mit der Wandfarbe die Linien des Tags nachgefahren werden, ohne dabei die wahre Silhouette zu verlieren, wird lediglich das Werk des vorherigen Künstlers unterstrichen.
Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen unbeugsamen Nachteulen und der Stadtpolizei wird wohl noch lange andauern, denn egal wie hoch die Geldstrafen ausfallen oder wie lange der Aufenthalt in Untersuchungshaft ist, Graffiti wird nie aussterben. Im Gegenteil, die Anzeigen wegen Vandalismus steigen von Jahr zu Jahr – und damit steigt hoffentlich auch das Engagement der Verwaltung, weiterhin mit so viel Herzblut und Liebe die Stadt um ein paar Spontankompositionen zu bereichern.